Ende Mai 1984 erlebte ich an einem Strand des Acadia Nationalpark in Maine/USA eine atemberaubende Sonnenfinsternis. Die Menschen standen und staunten und als das Spektakel vorüber war kam eine steinalte Frau auf mich zu und fragte, ob ich Henry David Thoreau kennen würde. Ich verneinte und fragte wer das denn sei. Gewesen sei, meinte sie. Und er habe schon damals eine Weisheit und Naturliebe besessen, die einzigartig gewesen und heute dringender denn je vonnöten sei. Ich solle mir doch einmal was von ihm besorgen. Dann sagte sie noch: Have a good life, young man. Später holte ich mir dann Walden und war tatsächlich gleich fasziniert. Und nochmal später schrieb ich meine Examensarbeit über diesen philosophischen Schriftsteller.
Thoreau lebte Anfang und Mitte des neunzehnten Jahrhunderts in Concord bei Boston. Er war mit dem Philosophen Ralph Waldo Emerson befreundet. Beide könnte man als humanistisch-pantheistische Naturphilosophen bezeichnen. Ein ganzheitliches Wahrnehmen und Denken stand im Mittelpunkt ihrer Arbeit. Aber Thoreau war auch ein politischer Dichter, ein erbitterter Gegner der Sklaverei und sozialer Ungerechtigkeit. Mit seiner Schrift zu einem gewaltfreien zivilen Ungehorsam beeinflusste und inspirierte er Mahatma Gandhi und Martin Luther King. Berühmt machte ihn auch sein Erfahrungsbericht Walden. Der Philosoph zog sich 1845 zwei Jahre lang an den Walden-Pond bei Concord in eine selbstgebaute Holzhütte zurück, um sich der aufkommenden industriellen Massenkultur zu entziehen.
Nach dieser intensiven Auseinandersetzung mit Thoreau – in deren Rahmen ich auch seine umfangreichen Tagebücher gelesen hatte – verlor ich den Dichter erst einmal wieder aus den Augen. Gelegentlich kam er im Rahmen der Nachhaltigkeits- Debatte oder im Zusammenhang mit Zivilem Ungehorsam vor; sein Walden gab es alle paar Jahre in neuen Auflagen in den Buchhandlungen. Einige hundert Monde nach der Acadia-Sonnenfinsternis lag er dann heut früh plötzlich wieder in meiner Hand und ich stellte schnell fest, dass ich ihn damals entweder sehr verinnerlicht hatte, oder ihm sehr ähnlich bin. Oder beides.
Womöglich würden Stil und Inhalte von Thoreau die meisten der sog. modernen Menschen langweilen, wohl schon deshalb, weil wir seit damals viele weitere Jahre Technisierung und Konsum ausgesetzt wurden und der Mensch innerhalb des dominanten Bezug-Systems bekanntlich die Einstellungen, Erwartungen und Erklärungen des Mainstreams annimmt. Und so kommt Henry David natürlich nicht so cool rüber wie die ganzen coolen Typen, denen wir heute eher glauben. An dieser Stelle möchte ich Mick Jagger noch nachträglich zu seinem 70. Geburtstag gratulieren. Er soll stellvertretend für jene coolen Typen stehen, den Stilikonen unserer Zeit. Er ist einer der schwer vermarkteten Heroes und die Menschen rennen ihm und seinen Mitmusikanten massenweise hinterher und finden das Sexidol noch immer unglaublich süß und unfassbar fit. Na denn! Lieber Mick: Happy Birthday! Wie gesagt: Thoreau rockt schon lange nicht mehr. Aber so war sein sound:
Wir müssen lernen, wieder wach zu werden und uns wach zu erhalten, nicht durch mechanische Mittel, sondern durch das unaufhörliche Erwarten des Sonnenaufgangs, welches uns nicht verlassen darf im tiefsten Schlaf. Ich kenne keine erhebendere Tatsache als die zweifellose Fähigkeit des Menschen, sein Leben durch bewusste Anstrengung auf einen höheren Standpunkt zu erheben. Es will etwas heißen, ein besonders schönes Bild malen, eine Statue meißeln, etwas Schönes hervorbringen zu können; aber es ist weit großartiger, die Atmosphäre, das medium selbst, durch welches wir hindurchblicken, zu malen und zu meißeln, was wir moralisch zu tun vermögen. Auf die Beschaffenheit des Tages selbst einzuwirken, das ist die höchste aller Künste.[…]
Ich zog in den Wald, weil ich den Wunsch hatte, mit Überlegung zu leben, dem eigentlichen, wirklichen Leben näherzutreten, zu sehen, ob ich nicht lernen konnte, was es zu lehren hatte, damit ich nicht, wenn es zum Sterben ginge, einsehen müsste, dass ich nicht gelebt hatte. Ich wollte nicht das leben, was nicht Leben war; das Leben ist so kostbar. Auch wollte ich keine Entsagung üben, außer es wurde unumgänglich notwendig. Ich wollte tief leben, alles Mark des Lebens aussaugen, so standhaft und spartanisch leben, dass alles, was nicht Leben war, in die Flucht geschlagen wird.
Hier diese Passagen im Original:
We must learn to reawaken and keep ourselves awake, not by mechanical aids, but by an infinite expectation of the dawn, which does not forsake us in our soundest sleep. I know of no more encouraging fact than the unquestionable ability of people to elevate their lives by conscious endeavor. It is something to be able to paint a particular picture, or to carve a statue, and so to make a few objects beautiful; but it is far more glorious to carve and paint the very atmosphere and medium through which we look, which morally we can do. To affect the quality of the day, that is the highest of arts. […]
I went to the woods because I wished to live deliberately, to front only the essential facts of life, and see if I could not learn what it had to teach, and not, when I came to die, discover that I had not lived. I did not wish to live what was not life, living is so dear; nor did I wish to practice resignation, unless it was quite necessary. I wanted to live deep and suck out all the marrow of life, to live so sturdily and Spartan-like as to put to rout all that was not life.
Thoreau spricht mir hier aus der Seele. All die vielen Dinge und Aktivitäten, die wir heute für so überaus wichtig halten – Smartphone, Eigenheim, Auto, Fernreisen, pausenloses Arbeiten – sie hindern uns massiv an dem was Thoreau wirkliches Leben nennt und daran, sich selbst, die Mitmenschen und die eigene Situation zu erkennen. Unsere Zeit verhindert durch ihren Dinge-Überfluss in erster Linie das Gespräch mit anderen und mit sich selbst. Ein Mensch, der immer am Machen ist, hat keine Zeit, sich selbst, andere und den Kontext, in welchem er lebt, zu sehen und zu verstehen.
Aber warum nur beschäftigt sich der Mensch fast ununterbrochen mit all diesen Dingen und Tätigkeiten ?
Zunächst einmal wird uns von einer übermächtigen Marketing-Industrie – der Werbe-Etat eines Produktes beträgt bis zu 50 Prozent des Ladenpreises, der Arbeitslohn oft nur ein Prozent – pausenlos etwas aufs Auge gedrückt, was wir gar nicht wollen und brauchen. Künstliche Bedürfnisse werden erzeugt. Coole Typen und falsche Idole präsentieren die falschen Produkte und die falsche Haltung. Harte Männer und PS-starke Autos, zum Beispiel: wenn man das richtig präsentiert und manipuliert, werden aus harten Männern tolle Männer und aus PS-starken Autos tolle Autos. Und Kinderaugen fangen an zu strahlen, nicht nur bei den Kleinen. Mit der Zeit verändern sich dann Sichtweisen und Werte der Menschen und schließlich ganze Gesellschaften. Gutes und Sinnvolles wird missachtet und gerät in Vergessenheit, weil sich aus weniger Gutem und Sinnlosem Geld machen lässt. Wenn eine ganze Generation hauptsächlich per technischem Medium miteinander kommuniziert, wird das massive Auswirkungen auf die Gesellschaft haben. Und die banale Ursache ist ein gut vermarktetes Massen-Produkt. Ob es die Gesellschaft wirklich positiv verändert, ob es dem Menschen und der Menschlichkeit schadet, wird nicht diskutiert, das Machbare wird einfach getan. In allen Lebensbereichen. Eigentlich ganz schön blöd, oder?!
Ein weiterer Grund für das permanente Machen und Kaufen und Konsumieren könnten Todestrieb und Todesangst des Menschen sein. Nach dem Motto: „Solange ich beschäftigt bin, brauche ich mich nicht mit mir selbst und diesen komischen existenziellen Fragen zu befassen. Und womöglich rufe ich dann auch noch schwarze Geister, die mir nur unnötige Angst machen“. Hier handelt es sich also vermutlich um eine Ablenkung als Verdrängung unseres wahren Wesens.
Noch ein Grund könnte das ungestillte Liebesbedürfnis des Menschen sein. Wenn unsere Sehnsüchte nach Liebe und intakten Beziehungen und nach Anerkennung nicht erfüllt werden – sowohl in Bezug auf andere, als auch auf unser Selbst – so fangen wir an, dieses Defizit zu kompensieren und wir tauchen in materielle oder in virtuelle und halbvirtuelle Welten ein: Konsumrausch, second life, Urlaube in weit entlegenen Paradiesen. Thoreau ist davon überzeugt, dass dieses Eintauchen in künstliche Welten nicht das wahre Leben ist. Ein wahres Leben im Falschen ist für ihn nicht möglich.
I did not wish to live what was not life.
Zu seiner Zeit waren diese Kunstwelten noch weniger das Internet und der Massentourismus, als vielmehr die rasant fortschreitende Industrialisierung und Mechanisierung aller Lebensbereiche. Zur Eisenbahn schreibt er:
Wir fahren nicht mit der Eisenbahn, sie fährt mit uns.
We do not ride on the railroad; it rides upon us.
Wenn einige die Freude haben, mit der Eisenbahn zu fahren, haben andere das Pech, davon belästigt zu werden.
…if some have the pleasure of riding on a rail, others have the misfortune to be ridden upon.
Thoreau sieht diese massiven Veränderungen seiner Gesellschaft sehr kritisch. Wobei er nicht fortschrittsfeindlich ist. Aber er ist überzeugt davon, dass die moralische Entwicklung des Menschen der technischen vorangehen muss. Die Menschen schaffen einfach neue Tatsachen, ohne sich zuvor mit den Veränderungen und Gefahren zu beschäftigen. Wenn man so will, so war Thoreau bereits vor über 150 Jahren ein Verantwortungsethiker im Stile eines Hans Jonas.
Thoreau steht für einen empathischen Individualismus, eine verantwortungsvolle Gemeinschaft und einen respektvollen Umgang mit der Natur.
In unserer Zeit dominieren eher Materialismus und Egoismus. Verantwortung verkommt immer mehr zu einem leeren Begriff für Firmen-Leitbilder und politische Reden. In der Realität haben wir uns eine politische Kaste herangezüchtet, die keine Verantwortung mehr übernehmen kann, weil sie für alles Unangenehme, das sie ankündigt – und es müssten viele unangenehme Schritte eingeleitet werden – postwendend von uns, den Wählern, abgestraft werden. Weil wir nur an uns selbst denken. (Unser Egoismus erscheint in der Menschheitsgeschichte allerdings wie eine anthropologische Konstante. Womöglich ist er deshalb auch niemals in den Griff zu bekommen.)
Thoreau hat sich damals zurückgezogen, weil ihn die Tendenzen seiner Zeit, der frühe amerikanische Kapitalismus und der industriell-technische Komplex, sehr beunruhigten. Er wollte sich da nicht mit hineinziehen lassen und wurde zum Warner vor den Entwicklungen. Viele Menschen in der westlichen Welt – und die westliche wird immer mehr die globale – sind auf der Suche nach einem alternativen Lebensweg, nach dem Weg heraus aus dem Hamsterrad, nach Entschleunigung und Selbstverwirklichung. Die Dynamik des kapitalistischen Monstrums kann dies aber auf keinen Fall bremsen; es sind vielmehr Parallelwelten im Nahhorizont, die hier entstehen. Von gesunder Entwicklung für die Menschheit und den Planeten kann da keine Rede sein.
Sich neu und sinnvoll anders zu orientieren ist nicht einfach, erfordert Mut und Risiko. Ich bin aber davon überzeugt, dass fast jeder Mensch sein Leben bewusster gestalten kann. Man muss zunächst die Situation erkennen und kann dann damit anfangen. Radikal oder in kleinen Schritten. Hauptsache ist, man verlässt den Weg des Materialismus und des lauten Mainstreams. Es gibt so viele Ausfahrten vom superhighway to hell. Allen voran sind das die Begegnungen mit der Natur – ein wenig davon ist uns noch geblieben – mit anderen Menschen und vor allem mit sich selbst. Denn nur ein gesundes Selbst kann Gutes tun, glücklich sein und verantwortlich handeln – für den Planeten, für andere, für sich selbst. Und die Treibstoffe dafür sind Demut, Vernunft und Liebe.
Damit dies gelingen kann braucht es aber zunächst Stille, Rückzug und Besinnung.
Ich bin überzeugt davon, dass das wahre Glück im Kleinen und Bescheidenen liegt, und in der Achtsamkeit und dem Respekt gegenüber allem und jedem. Ganz egal wo man ist, was man hat oder tut: in der eigenen Zufriedenheit liegt letztlich der Schlüssel zum Glück. Und dafür braucht es nicht viel. Vielleicht eben nur die Abkehr vom falschen, weil fremdbestimmten Leben.
Lasst mich zum Schluss noch aus meiner Zulassungsarbeit mit dem Titel Henry David Thoreau und sein Verhältnis zu Wissenschaft und Technik vom April 1986 zitieren:
Der mit Pflanzen und Tieren wesensverbundene Dichter antizipiert wie kaum ein anderer zu einem frühen Zeitpunkt der wissenschaftlich-technischen Revolution das ganze Ausmaß der Umweltzerstörung. Die Eingriffe des technischen Menschen in die natürlichen Abläufe sind gleichzeitig Angriffe auf Thoreau selbst, der sich als Teil des Naturgefüges begreift. Die durch Wissenschaft und Technik bewirkten Veränderungen der Gesellschaft und des Menschen in der Gesellschaft stoßen ebenfalls auf die herbe Kritik Thoreaus. Dieser lehnt nicht etwa den Fortschritt pauschal ab, sondern lässt seinen Hilferuf erst dann ertönen, als er die gesamte Tragweite der Entwicklung erkennt. Thoreau beklagt den Angriff auf den Individualismus des Menschen durch seine ´Vermaschinierung´. Die Entfremdung des Menschen von der Natur durch die Maschine und seine Despiritualisierung münden zusammen mit einer Entheiligung der Natur in einem bedingungslosen Materialismus, dem sich Thoreau durch seinen Walden-Aufenthalt zwischen 1845 und 1847 für zwei Jahre demonstrativ entsagt. Der Philosoph betrachtet den Eroberungsfeldzug von Wissenschaft und Technik als einen blasphemischen Eingriff des Menschen in die Befugnisse Gottes. Er erkennt auch, dass sich die technischen Mittel verselbständigt haben und der technische Mensch nicht mehr in der Lage ist, Zweck und Mittel zu unterscheiden. Thoreaus Kritik am Technizismus seiner Zeit beruht vor allem aber auf der Erkenntnis, dass die moralische Dimension der technischen weit hinterher hinkt und der Mensch zuerst auf der sittlichen Ebene Fortschritte erzielen müsse.
So, das war mein Ausflug zu Henry David Thoreau. Sollten Euch seine und meine Gedanken zu ernst rüberkommen, so will ich Euch sagen, dass ich glaube, dass zu viel Humor jedes vernünftige Denken und Fühlen behindert oder sogar ruiniert. Ich nenne das mal den Stefan-Raab-Effekt. Dieser ehemalige Metzgergeselle mit der Sensibilität eines Metzgermeisters schafft es mit großem Talent spätestens nach jeweils zehn Sekunden einen quotenerhaltenden Kalauer zu setzen. Raab ist für mich ein Sinnbild unserer Zeit und unserer Spaßgesellschaft. Sein fettes Grinsen und seine ununterbrochenen Witzchen sind mir das personifizierte Grauen. Ich versuche ihn nie zu schauen, aber wenn ich ihn zufällig zu Gesicht und zu Gehör bekomme, schaue ich direktement in dieses Grauen. Und er ist nur einer von vielen. Insgesamt beherrscht eine lächelnde Oberflächlichkeit die Zeit. Angeblich soll dieser Raab sogar das Kanzlerduell im TV moderieren.
Aber eigentlich ist Humor was Schönes und wichtig und natürlich gibt es viel Gutes auf dieser Welt. Wer will heute schon negativ rüberkommen, Gott bewahre! Man wäre sofort ein Geächteter. Niemals würde ich das wollen. Auch mein Liebesbedürfnis ist unstillbar. Aber wenn der Teufel grinst und wenn der Moderator rumlabert, dann ist das kein Humor, mit Verlaub gesagt, sondern einfach nur blöd und leider auch blöd machend.
Hey, ich bedanke mich bei allen, die unsere Konzerte der nun vergangenen BLUE WINE TOUR besucht haben und besonders bedanke ich mich bei meinen großartigen Mitspielern Andreas, Andy, Artur, Inga, Michaela, Monja und Norbert. Vom Neu-Ulmer Freiluft-Konzert wird es hier demnächst eine längere Zusammenstellung geben.
Ich werde mich jetzt erst einmal zurückziehen, neue Songs schreiben und diese dann irgendwann aufnehmen. Vielleicht wird es wieder eine neue Tour geben. Wir werden sehen. Alles darf sich entwickeln. Gelegentlich werde ich mich auf diesen Seiten bei Euch melden.
Wenn Euch meine bescheidene Kunst gefällt, so sagt und postet es bitte weiter. Man gerät sonst so leicht in Vergessenheit in dieser schnellen Zeit. Und wer will das schon?
Let love be your guide!
Bis bald,
Paulson