Zeitfenster der Stille


Während sich draußen auf beeindruckende Weise Weltgeschichte abspielt, wird es langsam Herbst und der Mensch zieht sich zurück in seine vier Wände, kommt zu Ruhe und Stille, zündet eine Kerze an, denkt und spürt nach, musiziert, liest ein gutes Buch, begegnet anderen Menschen mit Liebe und Achtsamkeit… Ihr merkt schon, ich habe da so ein Bild vom Herbst im Kopf. Und ich habe ein Bild und einen Song ausgesucht, um diese Stimmung zu beschreiben.

by the lakeside

Die Boote des Spätsommersees liegen vor Anker und warten auf ihr Winterquartier. An diesem Abend war es, als habe der Große Künstler zu tief in die Farbkiste gegriffen. Wahrscheinlich hatte er vor der Schwarz-Weiß-Zeit noch jede Menge Farben übrig.

Und wieder Chris Jones, dessen Melancholie so genial in die dunkle Jahreszeit passt, diesmal zu einem Lied von Sara K, in welchem sie auch vom Herbst singt. Wie Chris, dieser komplexe Mensch, die ihm in Vielem seltsame Welt beiseite zu legen vermag, sich einmal innerlich schüttelt und dann in sein Spiel eintaucht und wie er jeden Ton in einer dann anderen Welt erlebt und uns teilhaben lässt, ist schon sehr besonders. Auch wenn er hier nicht seine allerbeste Kunst zeigt, ist das egal, weil es nicht die einzelnen Töne sind, die seinen Zauber ausmachen, sondern genau dieser Zauber selbst, den er Gott weiß wie erzeugte. Er fasziniert mich immer wieder auf´s Neue und ich bin dankbar dafür, dass ich diesen Menschen bei den Aufnahmen zu One in a Million und in einigen anderen Situationen erleben durfte. Ich kannte ihn nicht wirklich gut, aber ich glaube er war nicht schwierig, er war einfach nur sehr sensibel und klug und wie alle Menschen auf der Suche nach Sinn. Für mich ein ganz großer Musiker!

http://www.youtube.com/watch?v=oLKd19g84nM&index=15&list=PLC031134670356C0E

Die Realität einer Welt, die sich immer schneller dreht, entspricht nicht meinem Bild vom Herbst. Es ist nicht nur die Abschaffung von Stille und Dunkelheit, die mich beunruhigt, es sieht auch ganz so aus, als fänden viele Menschen immer weniger Sinn im Leben. Unser räuberischer Leistungs- und Konsumkapitalismus bietet zwar Vielen ein angenehmes Leben, speziell jenen, die sich darin einzurichten verstehen und diesen Sinn noch finden können. Vor einigen Jahren dachte ich, das Internet könnte die Welt und den Menschen besser machen, aber inzwischen sehe ich vor allem die Nachteile: Diese erstaunliche technische Erfindung überfordert womöglich den Menschen und vergrößert seine Unsicherheit im Grunde nur noch. Ich bemerke einen vom Internet beschleunigten Globalisierungs-Pluralismus, der es langsam aber sicher verhindert, dass die Menschen noch das Verbindende sehen können. Diese Zersplitterung der Wahrnehmung in Millionen von Realitäten wird wohl kaum noch zu einem Konsens führen. Jeder kocht in seinem Kämmerlein sein eigenes Süppchen aus selektiven Nachrichtenteilchen, Verschwörungstheorien und persönlichen Neigungen. Vielleicht mag man einwenden, dass dies schon immer so war und dass es ohnehin so viele Realitäten wie Menschen gibt. Und womöglich kocht auch hier nur einer sein eigenes kummervolles Seelen-Süppchen und alles da draußen ist einfach nur suppi! Ja, theoretisch gibt es sie noch, die universellen Werte, genau wie die Stille und die Dunkelheit… manchmal sind sie aber verdammt schwer zu  entdecken. Für mich sind eine entfesselte technische Entwicklung, geschäftiger Aktionismus und ein argloser Optimismus viel gefährlicher als ein konstruktiver und eher passiver Skeptizismus. Der Mensch mit seinem anthropozentrischen Ego-Wahn ist doch andauernd nur am Machen, ohne vorher wirklich überlegt und miteinander den rechten Weg diskutiert zu haben. Diese Oberflächlichkeit findet sich auf allen Ebenen. Und dabei ist es wie in unseren Gärten: die lauten Aktivisten geben den Ton an, relativ wenige, die nie still sitzen können, tyrannisieren eine fast hilflose Mehrheit.

Well, wäre schön, wenn ich mit meiner Einschätzung daneben läge. Vielleicht ist es ja tatsächlich die beste aller Welten, wie manche glauben.

Ich schreibe dies zum hubschrauberartigen Lärm von Rasenmähern und befürchte, dass der Klimawandel die Freunde des grünen Sports nun ganzjährig in Verzückung versetzt.

Da heißt es locker bleiben und die wertvollen Zeitfenster der Stille voll auskosten!

So long,

Paulson

This entry was posted on Samstag, Oktober 4th, 2014 at 15:05 and is filed under 2014. You can follow any responses to this entry through the RSS 2.0 feed. Both comments and pings are currently closed.