burg 169

wie ein riesenhafter stern
strahlte die fahne der preußen
zwischen den dunklen türmen
hinaus ins stille zollernland

es war in den winterwochen
der zwangsläufigen verinselung
als er hinaufschaute und glaubte
eine kleine gestalt wahrzunehmen
die sich von zeit zu zeit bewegte

dann schärfte sich sein blick
auf wundersame weise

und erzeugte ein bild
von unwirklicher klarheit

übergroß und zum greifen nah
stand dort ein gealterter prinz
mit ernstem gesicht und einem
glas schweren dunklen weines
an einem der vielen fenster 
inmitten des in rot getauchten
mittelalterlichen prachtgemäuers

zum ersten mal überhaupt
war er mutterseelenallein 
im nächtlichen palast
auf dem monte solaris

und zum allerersten mal 
wurde ihm wirklich bewusst
wer er denn eigentlich war
und was er hätte sein können
wenn alles ein wenig später
oder anders gekommen wäre

und jener der emporschaute
ihn dort so stehen sah
und in ihn hineinblickte

stand seinerseits am fenster
grüßte hinauf zum einsamen 
mit einem glas vom roten
mit ebenso ernstem gesicht
denn auch er sah nun erst
was er hätte sein können
was er hätte werden sollen
unter den anderen umständen
wenn alles anders geworden
oder wenn er ein wenig früher 
auf diese welt gekommen wäre

dann
vollkommen unvermittelt
gerade als er im begriff war 
den anderen anzusprechen
löschte jemand die beleuchtung

und sie verschwand in der nacht

der prinz aber stand noch
eine weile dort am fenster
und träumte gedankenverloren
hinunter auf die goldenen lichter
der kleinen schwäbischen stadt

dann erhob er sich schließlich
und ging durch den großen saal
seine schritte hallten noch nach 
als er bereits verschwunden war

es war der 24.12.2020

 

pics & words: © paulson 

 

 

This entry was posted on Donnerstag, Dezember 24th, 2020 at 10:15 and is filed under 2020. You can follow any responses to this entry through the RSS 2.0 feed. Both comments and pings are currently closed.