Das neue Jahr hat begonnen wie jedes Jahr, mit Pauken und Raketen und mit allen Schönheiten und Scheußlichkeiten, die wir Menschen hervorzubringen imstande sind. Die Pariser Terrortat hat uns sehr erschreckt und macht uns nun Angst. In Zeiten der fanatischen Halsabschneider scheinen der Welt sämtliche Werte abhanden gekommen zu sein. Wir stehen dem Phänomen ziemlich ratlos gegenüber.
Von den gruseligen Männerhorden einmal abgesehen, scheint es jedem einzuleuchten, dass jene, die im Namen Gottes töten, niemals Gläubige sein können. Aber diese Taten haben ohnehin wenig bis nichts mit Religion zu tun. Gab es nicht schon immer Testosteron-gesteuerte mordende Männerbanden, die im Blutrausch durch die Lande zogen, oft genug in staatlich verordneter Mission? Ich glaube, man nennt das dann Krieg. Man muss nicht allzu lange in der deutschen Geschichte zurückgehen, um sogar noch Ungeheuerlicherem, noch Unbegreiflicherem zu begegnen. Wir haben dieses Grauen gut verwahrt an einen fernen Seelenort verdrängt, aber angesichts unserer eigenen Ängste können wir in diesen Tagen wieder einmal besser erahnen, was es für Millionen von Menschen bedeutet haben muss, in ständiger Todesangst zu leben. Frauen und Männer, Junge und Alte, Familien, Liebespaare, Menschen wie du und ich – alle waren sie Ziel und Opfer dieses Wahns. Aus ihrem Leben herausgerissen und kaltblütig ermordet, oder für immer traumatisiert.
Die Anschläge von Paris sollten uns einmal mehr daran erinnern, wozu der Mensch, vor allem der männliche, eben auch fähig ist. Ebenso könnte uns nun wieder einmal bewusst werden, in welch günstigen Zeiten wir seit Jahrzehnten leben; allerdings auf Kosten der Natur und unzähliger Menschen und Tiere, die alle Leidtragende unseres maßlosen Lebensstils sind, den man ohne weiteres als Kollektiv-Neurose bezeichnen kann. Die Art und Weise, wie wir leben und konsumieren, wie wir mit Artgenossen und Tieren umgehen, ist schlichtweg barbarisch.
Und auch Gewalt ist in unserer Gesellschaft omnipräsent: strukturelle, körperliche, seelische; auch wenn wir vermeintlich im Frieden leben, ist sie doch überall. Wo Abermillionen zusammenleben wird es niemals ganz ohne abgehen können. In jedem einzelnen Menschen wohnt ja die Gewalt; glücklicherweise kommt sie eher selten zum Ausbruch. Und sie fasziniert uns wie kaum ein anderes Thema. Freiwillig setzen sich viele den grausamsten Filmen aus, die Fernsehvorschau-Jingles kommen nicht ohne Leiche aus und in den Zimmern von Millionen von Jungs und jungen Männern werden jedes Jahr Abermillionen von virtuellen Wesen abgeknallt, als Unterhaltung, als Stressausgleich, als Sport. Gewalt ist überall.
Weil wir innerhalb unseres Landes schon viele Jahre im selben Trott weitermachen, bemerken wir den Grad an Kommerz, Gewalt und Ungerechtigkeit nicht mehr. Und jedesmal wenn wir anfangen, eine Sache zu thematisieren, passiert etwas Neues, dann wird sozusagen die nächste Sau durchs Dorf getrieben und das Vorherige ist wieder vergessen. Dann kommt die nächste Fußball-WM, dann ist ein Politiker pädophil, dann wieder ein mysteriöser Flugzeugabsturz, und immer so weiter. Alles scheint wichtiger zu sein als das Wichtige. Und innerhalb des Systems ist der Mensch eben blind, wir alle sind irgendwie darin gefangen, haben es früh übernommen, es ist in Fleisch und Blut übergegangen, und unser erster Lebenssinn scheint das Kaufen von Waren und Dienstleistungen zu sein. Das Herz schlägt höher, wenn der Paketbote klingelt!
Die Party wird noch eine Weile weitergehn, wenn wir dann 10 Milliarden sind, werden wir eine neue Erde brauchen. Jeder weiß es, aber fast niemand ändert sein Leben. Bescheidenheit wäre angesagt und Lebensqualität, die nicht auf Dingen beruht. Das Leben könnte paradiesisch sein.
Bei manchen der so genannten islamistischen Aussteiger liegt womöglich auch eine Sinnkrise zugrunde. Irgendwann hat man das Ego-Shooten und Blödmann-Fernsehen, die ewigen Fertigpizzas und die Einsamkeit halt satt und dann sieht man zufällig die Heldenvideos der Schwarzkappen oder trifft einen Hassprediger, dessen Augen leuchten wie Versprechungen von Zuneigung und Heimat. Und es ist genau diese Zugehörigkeit und dieser endlich-mal-wer-sein-Kick, der diese Leute begeistert, einen Sinn in ihre kleinen verzweifelten versteinerten Leben bringt. Manche abgestumpften Seelen kennen dann offensichtlich keine Stoppzeichen mehr. Es könnte tatsächlich sein, dass es sich bei den Islam-Kriegern um eine sehr vernachlässigte, irrationale und aggressive Sorte von Sinnsuchern handelt, um Leute, die in unserer wertearmen heilen Dingewelt nicht zurechtkommen.
Zurück zu den Normalos, falls es sowas wirklich gibt. Viele lassen sich in diesen Tagen mediengeflutet von ihren Ängsten plagen und manche beschimpfen dabei wieder einmal jene, die noch den Nerv haben, sich für das Gemeinwesen, man könnte aber auch sagen, für ein Volk von Wutmenschen und Konsumenten, zu engagieren. Politiker-Bashing ist wie Biathlon, Fußball und das Suchen und Glauben von Verschwörungstheorien ein regelrechter Volkssport geworden. Ganz viele wissen alles besser, haben aber null Bock darauf, sich konstruktiv einzubringen, viele sind gleich mal zu faul, sich überhaupt zu informieren, im Grunde Ahnungslose mit Riesen-Egos. Da fällt mir nur noch das Wort Entlastung ein. Diese Menschen müssen sehr frustriert sein und gehen als lebende Dampfkessel durch den Tag. Und weil etwas mit ihnen nicht stimmt, machen sie andere dafür verantwortlich. Kinder machen das auch so. Beim Mobbing ist das so und bei fast allen Arten von Gewalt. Das Unbewusste lässt grüßen. Aber natürlich haben alle, wenn man sie fragt, alles im Griff, immer! Von Selbstdistanz und Selbsterkenntnis keine Spur.
Was die Ängste anbelangt, so sollten wir sie nicht verdrängen, aber auch nicht zulassen, dass uns die schrecklichen Bilder um den Schlaf bringen. Ich habe mir angewöhnt, sie nicht wieder und wieder anzusehn, einmal genügt, auch keinmal wäre eine Option, es gibt ja schließlich auch noch Radio und sogar Funkstille ist eine Möglichkeit. Nicht zu vergessen, den noch sehr guten deutschen Presse-Journalismus. Die von manchen so genannte Lügenpresse ist eine unserer größten Errungenschaften. Aber die Aussteiger und erwachsenen Verschwörungsmärchen-Kleinkinder werden sie schon noch zur Strecke bringen.
Was die reale Terrorgefahr für den Einzelnen angeht: Die Chance bei einem Autounfall ums Leben zu kommen ist ungleich größer als die Wahrscheinlichkeit, Opfer einer Terrortat zu werden. Würde das Fernsehen täglich ausführlich über Autounfälle berichten – was nicht wirklich eine Überraschung wäre – keiner würde sich mehr ans Steuer setzen, auch angesichts der noch immer horrenden Opferzahlen. Von den grausamen Folgen von Nikotin, Alkohol, Bewegungsmangel und Übergewicht mal ganz abgesehen. Unsere Art zu leben ist eine weit größere Gefahr als das, was uns derzeit Angst macht.
Es ist für mich keine Frage, dass es auch in unserem Land früher oder später geschehen wird, aber zur Panik besteht kein Anlass. Der gekränkte, vernachlässigte und verwirrte Mensch ist eben zu vielem fähig. Das war immer so und es wird immer so sein. Was in Paris vor zwei Wochen geschah, ist grauenvoll und es wird Frankreich verändern. Bei jeder Bedrohung wird die Sicherheit hochgefahren und die Freiheit leidet. Auch das ist völlig normal. Wir werden uns erst vorstellen können, wie sich die Menschen in den USA 2001 gefühlt haben, wenn wir selbst Ähnliches erleben. Natürlich hat auch die kriegerische Rolle der US-amerikanischen Politik unter George Troubleyou Bush beim Entstehen des neueren islamistischen Terrors eine Rolle gespielt. Wir im Westen sind sehr dominant und haben, gefangen im eigenen System, eben auch einen sehr eingeschränkten Blickwinkel. Wir sind genauso selbstverliebt wie der Anthropozentrismus des Menschen insgesamt. Wir denken auch 500 Jahre nach Kopernikus noch immer, wir seien das Zentrum des Universums – jeder einzelne Mensch tut das, Gruppen von Menschen, Volksgruppen, Nationen, Ideologien, Religionen, und die Menschheit in Bezug auf alle anderen Lebewesen. Im Grunde sind wir das aggressivste Raubtier auf Erden. Und wir sind sehr komplizierte Wesen, die sich letztlich selbst nicht kennen, die meisten Gründe für unser Tun liegen im Unbewussten verborgen, im individuellen wie im nationalen und im kollektiven der Spezies homo sapiens, wie wir uns so schön zu nennen pflegen. Wir sollten uns aber eingestehen, dass wir fast nichts wissen und endlich mit mehr Gelassenheit erkennen, dass wir sterblich sind. Und wir sollten eine Ethik des Seinlassens erlernen: Das Nichtherstellen, das Nichtkaufen, das Nichtstun, das Weniger-ist-mehr. Wir hätten immer noch genug, könnten einander begegnen, jeder hätte Zeit für seine eigene Sinnsuche; vor allem aber hätten wir die Zeit mit Weitblick und Besonnenheit zu beraten und zu beschließen, was wir machen und was wir lieber unterlassen sollten! Das eigene Handeln verantwortungsvoll abschätzen, bevor man etwas tut, nicht nachdem man Tatsachen geschaffen hat. Ich glaube, man nennt das auch nachhaltiges Handeln. Das Leben könnte ein Paradies sein. Aber wir ziehen es vor, uns abzuhetzen und den Planeten zu ruinieren. Tiefenpsychologisch betrachtet wohl weniger, weil wir so vital, als vielmehr, weil wir sterblich sind.
Ich möchte heute dem Menschen und seinen Gewaltorgien eine Gruppe von verschneiten Bäumen entgegenstellen. Das Bild entstand dieser Tage kurz vor Sonnenuntergang auf einer Lichtung am Albtrauf. Es ist wunderbar dort in Stille und Frieden zu verweilen.
Und ich würde gerne einen kurzen Film der BBC mit Euch teilen, den ich neulich entdeckt habe und der mich berührt hat. Schaut Euch bitte den Flug der Kraniche über Venedig an.
http://www.youtube.com/watch?v=DHuH7KaPbLc
Beim nächsten update erzähl ich Euch von meinen neuen Songs.
Bis dann,
Paulson