Heute wehte mir Frühlingsluft um die Nase,

… der letzte Schnee im Tale schmilzt, überall kleine Bächlein, auch da wo sonst gar keine sind, das murmelnde Geheimnis einer wenig beachteten Natur. In der Regel wird das uns direkt Umgebende ja eher nicht gesehen, oder höchstens als Medium für Fitnesssport verwendet. Es walkt und läuft und rollt wieder aus allen Ecken. Die Menschen kommen aus ihrem Winterbehausungen, lecken ihre Wunden, machen sich fit für den Sommer und warten wieder auf Wunder. Heute bin ich auch drei Rehen und vier Wildschweinen begegnet. Alles unfallfrei.  Und alles in Bewegung, nicht nur das Wasser und die Menschen. In den Zweigen tickt die Uhr rückwärts in Richtung großes Aufbrechen. Ein paar warme Tage und alles wird wieder aufplatzen. Faszinierend, diese innere Uhr der Natur.

Aber wir leben in einer Welt der Dinge. Flugreisen,  fette Autos mit dicken Schlappen, Fernsehgeräte wie Kinoleinwände, Häuser für zehn bewohnt von zwei, Supermarktregale mit 100 verschiedenen Artikeln vom Gleichen. Lebensstandard, Wirtschaftswachstum, Wohlstand. Prima. Glücklicherweise leben wir nicht mehr in Hütten – auch wenn ich mir manchmal das Häuschen im Grünen wünsche – und doch machen all die Dinge nicht glücklich. Sie machen eher bequem, und sie lenken von all den schönen immateriellen Dingen ab, die es auch gibt, und die ganz gewiss keine Dinge sind. Ich werde nicht fragen wo Gott mal wieder war, am 11.3. in Winnenden, aber es sollte mal die Frage gestellt werden, warum sich alle so sehr wundern, dass sowas passiert. Da gab es Waffen – in Deutschland gibt es über sieben Millionen in privaten Haushalten – da gab es einen verzweifelten gekränkten Jugendlichen, da gab es Gewaltspiele, und wahrscheinlich noch einiges, was wir nicht werden erklären können. Und dann ist es geschehen. Es ist grauenhaft, was da geschah. Doch es hätte überall passieren können. Es kann morgen passieren. Bei Euch oder in meiner Schule, bei einem Konzert oder im Supermarkt. Wo Autos fahren, noch dazu ohne Tempolimit, da geschehen Unfälle und Tausende werden getötet. Jahr für Jahr dies Massensterben, das einen kaum mehr wundert. Und ab und zu stürzt halt ein Flugzeug ab, weil Menschen da eigentlich nicht hingehören, sie gehören auf die Erde. Wir befördern unsere urlaubssüchtigen Hintern in wenigen Minuten hinauf in die Stratosphäre. Eigentlich unerhört. Wunder der Technik. Schön aber eigentlich wundersam, dass so wenig passiert! All das ertragen wir in unserer Gesellschaft. Diese Unglücke sind einkalkuliert. Natürlich kann man hier von einem 15-fachen Mord sprechen. Natürlich war es heimtückisch. Aber es war auch ein schreckliches Unglück. Dieser junge Mann war wohl einsam, er konnte wohl mit den Kränkungen der Gesellschaft nicht so umgehen wie fast alle anderen. Und dann hat er den Helden gespielt und wurde im Töten und im Tode nochmal wahrgenommen und sogar berühmt. Head shots (so sagen die videospielenden Jugendlichen dazu)  habe er gesetzt. Das sieht und tut man in Videospielen. Ich kapiere nicht, was an diesen ekelhaften Spielen Spaß machen kann, wo es nur darum geht andere zu ermorden und ihr Blut spritzen zu sehen. Widerlich und unbegreiflich. Angeblich sind es ja niemals diese Spiele allein. Aber von solchen Taten einmal ganz abgesehen: Diese Spiele allein sind eine Schande für uns alle! Dass Millionen von jungen Menschen sie täglich stundenlang spielen dürfen ist im Grunde auch ein Verbrechen. An den Jugendlichen. Denn diese Spiele werden von Erwachsenen gemacht und vermarktet. So wie all das andere. Erwachsene werden teilweise stinkreich durch sie. Wir bezeichnen das Spielen oder Nichtspielen als Freiheit, und doch ist es oftmals das Gegenteil. Und es ist nur ein Beispiel für eine Welt, die vielleicht noch nie offener und vielfältiger und friedlicher war als je zuvor, die es aber zulässt, dass diese positiven Entwicklungen zunichte gemacht werden von den Giften unserer Zeit:  von einem grenzenlosen Materialismus, einer kaum mehr zu überbietenden Niveaulosigkeit, allgegenwärtiger Gewalt, von Gefühl- und Sprachlosigkeit. Wo sind die Grenzen von Freiheit und Toleranz? Wir finanzieren einen Präventivkrieg in Afghanistan, schützen die Gesellschaft gewissenhaft vor Radioaktivität und Rauschgift und was weiß ich, statten unsere Autos mit allen möglichen Airbags und sonstigen Sicherheitseinrichtungen aus, und lassen es andererseits zu, dass die Medien und Marketing-Abteilungen –  aber natürlich nicht nur die  – uns langsam verblöden. Und mit all der strukturellen Gewalt leben wir halt, kaum einer hat ja auch die Zeit, denn wir arbeiten und produzieren ohne Unterlass. Arbeit und Kohle sind unsere Götter. Güter und Privateigentum. Machtstreben und Statuserhalt. Das alles lassen wir zu und hoffen halt, dass nichts passiert. Aber es passiert ganz zwangsläufig. So wie letzten Mittwoch. Und je mehr wir den Götzen nachjagen, umso häufiger wird es passieren. Und dann halten wir kurz inne und können es nicht fassen. Wir lassen die jungen Menschen allein, oder wir geben sie in der Schule ab, wo sie in Riesenklassen untergehen, und wo wir sie auch nur wieder auf die Hochleistungsgesellschaft vorbereiten. Aufs Produzieren und Überleben. Doch wir bringen ihnen nicht bei, was das gute Leben ist, wie man Empathie lernt und glücklich werden kann. In den Leitbildern der Betriebe und Schulen steht so manches Gute. Und doch wird es kaum gelebt. Weil wir uns keine Zeit füreinander nehmen, wie getrieben immer Neues tun ohne die Prozesse zu reflektieren. Weil die Bedingungen so sind wie wir alle sie gemacht haben. Die Maßnahmen des Staates werden auch diesmal an den tieferen Ursachen vorbeigehen. Wieder wird irgendein Gesetz verschärft werden. Aber das ist es nicht. Es sind diese Gifte, die zu solchen Taten führen. Wir haben derzeit die besten Jugendlichen aller Zeiten, daran habe ich keinen Zweifel. Ihre Offenheit und Aufgeklärtheit, Ihre Wachheit und Lockerheit sind auch das Produkt von Internet und Globalisierung, und von einer Welt, die vielleicht noch nie friedlicher und offener war als zumindest die unsere im reichen Westen. Und doch kommen nicht alle mit den Entwicklungen mit. Vielleicht war auch das schon immer so. Sicherlich gab es schon immer Gehässigkeiten, schon vor DSDS und diesem fiesen Schleimbeuteln alla Dieter Bohlen. Die höchsten Einschaltquoten hat die Sendung wohl nicht, wenn einer super performt, sondern wenn diese Anti-Ikone die armen Jugendlichen vor der Privatfernsehnation in nicht mehr zu überbietender Arroganz entwürdigt. Nicht alles ist schlecht, wahrlich nicht, der halbwegs aufgeklärte Mensch kann sich in der schönen neuen Welt gut zurechtfinden, und sogar die Seele angenehm streicheln lassen. Doch gerade vernachlässigte, labile und sensible Jugendliche lassen sich von den dubiosen Angeboten der Moderne dorthin führen wo´s richtig gefährlich werden kann. Den Opfern von Winnenden und Wendlingen ist es verständlicherweise wichtig, ihn als kaltblütigen Mörder zu sehen, diesen Tim K. Aber natürlich weiß jeder, dass vor allem er selbst eine bedauernswerte Kreatur war. Auch er muss betrauert werden. In einer gewissen Weise hat diese Gesellschaft ihn und die von ihm Getöteten auf dem Gewissen. Er war das Produkt einer bundesrepublikanischen Realität, die Dummheit, Gleichgültigkeit, Waffen, Gewalt und Gehässigkeit zulässt. Trotz unserer friedlichen und durchaus schönen Zeit. Diese 16 Menschen werden den neuen Frühling nicht mehr erleben.

Kauft Bücher statt Waffen!

Und genießt die Piepmätze!

Paulson

This entry was posted on Sonntag, März 15th, 2009 at 23:26 and is filed under 2009. You can follow any responses to this entry through the RSS 2.0 feed. Both comments and pings are currently closed.